GASSENARBEIT

«Gassenarbeit beginnt selten mit grossen Gesten. Oft beginnt sie mit einem Blickkontakt, einem vorsichtigen «Wie geht’s dir?»oder einfach mit der Entscheidung, stehen zu bleiben, statt weiterzugehen. Und doch entfaltet sich genau in diesen unscheinbaren Momenten eine Kraft, die unser gesellschaftliches Zusammenleben verändert: die Kraft echter, gelebter Menschlichkeit. Für das HOPE ist diese Arbeit weit mehr als ein sozialer Auftrag – sie ist Ausdruck unseres Glaubens, unserer Hoffnungen und unseres tiefen Respekts vor der Würde jedes Einzelnen.»

Nächstenliebe, die nicht fragt, ob sich jemand lohnt

Unsere Gassenarbeit steht auf dem Fundament der Nächstenliebe. Nicht der romantisierten, nicht der bequemen, sondern jener Liebe, die den Mut hat, dorthin zu gehen, wo Not am offensichtlichsten ist. Wir lesen in der Bibel: «Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben.»Dieser Satz ist kein moralischer Appell an einzelne Gutmenschen, sondern ein Kompass für eine Gesellschaft, die menschlich bleiben will. Er ruft uns dazu auf, die Verletzlichkeit des einzelnen nicht als Schwäche zu betrachten, sondern als Einladung – eine Einladung, die eigene Menschlichkeit ernst zu nehmen.

Wer Gassenarbeit macht, weiss: Hinter jeder Hand, die zittrig eine Suppe hält, hinter jedem Blick, der erst zögerlich und dann hoffnungsvoll wird, steht eine Geschichte. Es sind Geschichten voller Brüche, Verluste, Enttäuschungen. Aber auch voller Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Sicherheit, Annahme. Diese Geschichten verlangen kein Mitleid, sondern Mitgefühl; keine schnellen Lösungen, sondern verlässliche Begleitung.
Schon in den ersten Kapiteln der Bibel lernen wir, dass alle Menschen Ebenbilder Gottes sind – unverwechselbar, unendlich wertvoll. In der Gassenarbeit bedeutet das: Wir begegnen niemandem aus einer Position der Überlegenheit. Wir bringen keine fertigen Antworten mit, sondern offene Ohren. Gassenarbeit ist Beziehung, nicht Belehrung. Sie ist ein Dialog auf Augenhöhe, in dem wir gemeinsam mit den Betroffenen herausfinden, was jetzt nötig und was möglich ist. Oft beginnt Heilung nicht mit einem Angebot, sondern mit der einfachen Botschaft: Du bist nicht allein.

Das biblische Vorbild: Gerechtigkeit mit Füssen, nicht nur mit Worten

In den alttestamentlichen Büchern von Amos und Micha finden wir unüberhörbare Rufe nach einer Gerechtigkeit, die nicht in Tempeln, sondern auf Strassen sichtbar werden soll. Auch Jesus wählt als Vorbild nicht den Priester oder Leviten, sondern den barmherzigen Samariter – den Fremden, den sozial Unerwarteten.
Dieses Gleichnis bricht bis heute unseren Automatismus, das «Wir» gegen ein «Sie» zu setzen. Es erinnert uns
daran, dass es keine Grenze geben darf zwischen denen, die helfen, und denen, die Hilfe brauchen.

Für uns als HOPE bedeutet das: Wir gehen aktiv dorthin, wo Ausgrenzung geschieht. Wir machen nicht die Strukturen, sondern die Menschen zum Ausgangspunkt unseres Handelns. Wir geben ihnen nicht bloss Unterstützung, sondern ein Stück Gerechtigkeit zurück – jene Gerechtigkeit, die jedem Menschen zusteht.

Unser christliches Fundament ist aber nicht die einzige Quelle, aus der sich die Notwendigkeit der Gassenarbeit begründen lässt. Vielmehr gibt es auch aus philosophischen Sichtweisen erstaunlich oft Argumente, die einander ergänzen, statt sich zu widersprechen. Kant fordert, jeden Menschen als Zweck an sich zu achten. Niemand darf auf seine Defizite, seine Fehler oder seine Lebenssituation reduziert werden. Gassenarbeit nimmt diesen Gedanken ernst, indem sie Menschen in schwieriger Lage nie als «Fälle»oder «Probleme»behandelt, sondern als Träger einer unverlierbaren Würde. Der kategorische Imperativ macht klar: Eine Welt, in der keiner dem anderen hilft, wenn er am Boden liegt, wäre moralisch unhaltbar.

Der Utilitarismus wiederum fragt nach dem bestmöglichen Gesamtwohl. Aus dieser Perspektive reduziert Gassenarbeit Leiden, beugt Krisen vor, verbessert Gesundheit und gesellschaftliche Stabilität und senkt langfristig auch Kosten. Sie schafft also einen messbaren Nutzen – aber einen Nutzen, der aus Mitmenschlichkeit wächst und nicht aus Berechnung. Selbst aus klassisch liberaler Sicht, wie sie in der Schweiz besonders stark politisch verankert ist, ergibt sich eine klare Bedeutung der Gassenarbeit. Liberales Denken baut auf der Überzeugung auf, dass jeder Mensch die Chance haben soll, Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen. Doch wer tief in Armut, Abhängigkeit oder Isolation steckt, hat oft gar keinen freien Handlungsspielraum mehr. Gassenarbeit setzt hier an: niedrigschwellig, freiwillig, respektvoll. Sie hilft, Menschen wieder zu Handlungsträgern ihres Lebens zu machen.

Zugleich wirkt Gassenarbeit präventiv für die Gesellschaft insgesamt: Sie entschärft Konflikte, schafft Vertrauen, verhindert Eskalationen und stärkt die demokratische Teilhabe auch jener Menschen, deren Stimmen sonst ungehört bleiben. Aus liberaler Sicht fördert Gassenarbeit somit sozialen Frieden, faire Chancen und langfristige Stabilität.

Die Menschlichkeit ist unser Prüfstein

Ob theologisch, philosophisch oder politisch – alle Perspektiven führen zu einem zentralen Punkt: Die Art, wie wir mit den verletzlichsten Menschen umgehen, zeigt, wer wir als Gesellschaft sein wollen. Gassenarbeit steht exemplarisch für diesen Anspruch. Sie ist kein Zusatzangebot, kein Randbereich der Sozialpolitik, keine moralische Kür. Sieist ein Prüfstein unserer Werte.

Deshalb bedeutet Gassenarbeit im HOPE, dass wir uns nicht in unserer Komfortzone aufhalten. Wir suchen die Begegnung, auch wenn sie herausfordert. Wir bleiben, auch wenn es schwierig wird. Wir vertrauen darauf, dass selbst im dunkelsten Moment ein Licht angezündet werden kann.

Wir glauben, dass jeder menschliche Kontakt ein heilender Moment sein kann – sei es ein Gespräch im Regen, eine spontane Notfallbegleitung oder einfach die stille Präsenz neben jemandem, der niemanden sonst hat.

Und wir wissen: Jeder kleine Akt der Nächstenliebe ist ein Stück Reich Gottes mitten auf der Strasse. Nicht in der Kirche. Nicht im Seminarraum. Sondern dort, wo Menschen ringen, scheitern, hoffen und suchen.

Herzliche Grüsse
Christian Obrist, Geschäftsleiter

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